Hochsensibilität und ADHS
- David Beck
- 17. März
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. März
Warum manche Menschen Reize besonders tief spüren, während andere sie kaum filtern können – und wie eine professionelle Diagnose für beide Gruppen entscheidende Klarheit schaffen kann
Hochsensibilität – Die Welt in lebhaften und lauten Farben

Was bedeutet Hochsensibilität im Kern?
Hochsensibilität (auch als Highly Sensitive Person, HSP, bezeichnet) ist keine formale Diagnose, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, bei dem das Nervensystem auf Reize besonders fein reagiert (Aron, 1996). Dies betrifft oft alle Sinneskanäle:
Auditive Eindrücke: Ein laufender Fernseher im Nebenzimmer oder das Surren eines Lüfters kann Hochsensible über Gebühr stressen.
Visuelle Reize: Grelles Licht, flackernde Bildschirme oder auffällige Farben erscheinen intensiver oder sogar unangenehm.
Emotionale Schwingungen: Viele Hochsensible nehmen Stimmungen und Untertöne in Gesprächen wahr, bevor andere sie überhaupt bemerken.
Wer hochsensibel ist, erlebt also eine verstärkte Wahrnehmung von Umwelt und Mitmenschen. Das kann sich positiv in tiefem Einfühlungsvermögen zeigen, bedeutet aber auch schnellere Überladung mit Eindrücken. Dieses Phänomen erklärt, warum manche Menschen nach einer kurzen Einkaufsrunde im vollen Supermarkt dringend Ruhe brauchen – das Gehirn musste so viele Details verarbeiten, dass es sich erschöpft fühlt.
Alltag und Gefühle: Fluch oder Segen?
Der Alltag für Hochsensible kann herausfordernd sein. Sie reagieren häufig stärker auf Konflikte und haben ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis. Lautstarke Diskussionen oder Unstimmigkeiten im Team können ihnen extrem zusetzen, weil sie die Spannungen intensiver empfinden. In Beziehungen wünschen sie sich oft klare Kommunikation, Rücksichtnahme auf ihre Grenzen und genügend Zeit, um Erlebtes zu verarbeiten.Allerdings bietet Hochsensibilität auch Stärken: Hochsensible sind oft sehr kreativ, nehmen feine Nuancen in Kunst und Musik wahr, setzen sich intensiv mit komplexen Themen auseinander und zeigen ein hohes Maß an Empathie. Ob es zum Fluch oder Segen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut sie ihre Bedürfnisse im Alltag einbringen können – sei es durch Rückzugsorte, eine passende Berufswahl oder den bewussten Umgang mit Stressfaktoren.
Überforderung und Rückzug
Gerade weil Hochsensible so viele Eindrücke aufsaugen, kann es passieren, dass sie rascher erschöpft sind. Eine Geburtstagsfeier, die andere als kurzweilig empfinden, kann für sie ein anstrengender Marathon sein, da sie nicht nur die Gespräche mitverfolgen, sondern auch das Stimmengewirr, die Raumakustik, die Lichter und die Stimmungslage sämtlicher Gäste wahrnehmen. Rückzug ist dann eine natürliche Reaktion:
Stille Pausen: Ein Spaziergang in der Natur oder ein Buch in einem ruhigen Zimmer kann den Kopf wieder klären.
Selbstfürsorge: Wer hochsensibel ist, profitiert von klaren Grenzen und Zeitplänen, in denen man bewusst keine neuen Reize zulässt.
ADHS – Wenn Aufmerksamkeit zur täglichen Herausforderung wird
Neurobiologische Wurzeln von ADHS
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine anerkannte Entwicklungsstörung, die auf neurobiologischen Unterschieden beruht (Kessler et al., 2006). Betroffene kämpfen nicht nur mit Konzentrationsproblemen, sondern häufig auch mit starker Impulsivität und einer verminderten Fähigkeit, unwichtige Reize auszublenden.
Das Gehirn von Menschen mit ADHS ist oft in einer Art „Dauerempfang“: Alle Sinneswahrnehmungen dringen gleich stark durch, ohne dass sie gut priorisiert werden. Während andere vielleicht das Ticken einer Uhr ausblenden, bleibt es für ADHS-Betroffene permanent präsent. Das kann zu ähnlichen Reizüberlastungen führen, wie sie Hochsensible kennen – nur entsteht diese Überflutung hier durch mangelnde Reizfilterung, nicht vorrangig durch eine erhöhte sensorische Empfindsamkeit
.
Alltag zwischen Chaos und Hyperfokus
Im typischen ADHS-Alltag wechseln sich oft Phasen hektischer Unruhe mit Momenten des Hyperfokus ab (Brown, 2013). Wenn ein Thema stark interessiert, können Menschen mit ADHS hochmotiviert und überaus produktiv daran arbeiten – bis sie von einem neuen Impuls abgelenkt werden. Gleichzeitig fallen routinierte To-dos wie Steuererklärungen, Aufräumen oder administrative Aufgaben schwer, was schnell zu Chaos führen kann.
Dieses Spannungsfeld ist enorm anstrengend, weil Betroffene einerseits als sehr ideenreich oder leistungsstark gelten können, andererseits an banalen organisatorischen Aufgaben scheitern. Hinzu kommt, dass sie sich oft selbst dafür verurteilen („Warum kann ich das nicht wie alle anderen?“), was zu zusätzlichen Stress- und Versagensgefühlen führt.
Typische ADHS-Fallen:
Prokrastination: Wichtiges wird bis zur letzten Minute aufgeschoben.
Impulsive Handlungen: Ob voreilige Einkäufe oder übereilte Wortmeldungen im Meeting – Impulsivität kann zu peinlichen oder teuren Ausrutschern führen.
Emotionale Dysregulation: Rascher Wechsel von Euphorie zu Frustration oder Wutausbrüchen.
Überschneidungen – Warum Hochsensibilität und ADHS verwechselt werden können
Reizverarbeitung als Schlüssel
Bei beiden Phänomenen spielt die Verarbeitung von Reizen eine zentrale Rolle. Hochsensible haben feiner eingestellte Sinneskanäle; ADHS-Betroffene filtern Reize nur schwer. Das Ergebnis sieht auf den ersten Blick gleich aus: eine schnelle Überforderung in lauten, unstrukturierten oder emotional aufgeladenen Situationen. Sowohl Hochsensible als auch Menschen mit ADHS können sich dann zurückziehen oder gereizt reagieren, weil das System überlastet ist.
Intensive Gefühle und Empathie
Sowohl Hochsensible als auch manche ADHS-Betroffene gelten als emotional empfindsam. Im Fall von Hochsensibilität liegt das an der Tiefenwahrnehmung von Gefühlen; im Fall von ADHS kann es an einer raschen Reizverarbeitung und impulsgesteuerten Gefühlslage liegen. Ergebnis: Beide Gruppen neigen zu intensiven Stimmungsausschlägen.
Das bedeutet auch, dass Empathie ausgeprägt sein kann. Hochsensible fühlen sich stark in andere ein, während ADHS-Betroffene durch ihr offenes Reizsystem manchmal Stimmungen anderer besonders wahrnehmen. Diese Überschneidung in emotionaler Intensität trägt dazu bei, dass Laien nicht genau wissen, ob sie „nur“ sehr sensibel sind oder ob ADHS eine Rolle spielt.
Überhöhte Selbstvorwürfe
In beiden Fällen kommt es häufig zu Selbstzweifeln, wenn man den eigenen Ansprüchen oder den Erwartungen anderer nicht gerecht wird. Hochsensible tun sich schwer, in leistungsorientierten Strukturen zu bestehen, weil sie sich von Konflikten oder Lärm extrem gestresst fühlen. ADHS-Betroffene scheitern womöglich an streng vorgegebenen Deadlines, an Verwaltungsaufgaben oder an rigiden Tagesplänen. Beide Gruppen spüren die Diskrepanz zwischen eigenen Potenzialen und dem, was sie im Alltag tatsächlich abrufen können.
Unterschiede – Wann liegt eher Hochsensibilität vor und wann eine ADHS?
Ursprung des Problems: Sinne vs. Selbststeuerung
Hochsensibilität beruht primär auf einer erhöhten sensorischen und emotionalen Empfänglichkeit. Menschen, die hochsensibel sind, geraten in Stress, weil sie zu viele subtile Reize aufnehmen – sie haben jedoch nicht zwingend Schwierigkeiten damit, Aufgaben zu planen oder Impulse zu kontrollieren.
ADHS hingegen legt den Fokus stärker auf Defizite in der Selbstregulation (Kessler et al., 2006). Wer ADHS hat, verfällt eher in Prokrastination oder impulsive Handlungen, weil es dem Gehirn an Strukturierungs- und Steuerungsfähigkeit mangelt. Während Hochsensible also „zu viel spüren“, filtern ADHS-Betroffene Reize nur unzureichend und kommen mit Planungs- und Organisationsanforderungen schlechter zurecht.
Zeitpunkt und Konstanz der Symptome
Hochsensibilität ist meist ein lebenslanger Begleiter, der sich schon in der Kindheit zeigen kann, aber erst in der Jugend oder im Erwachsenenalter richtig auffällt, wenn Leistungs- und Erwartungsdruck ansteigen (Aron, 1996). Bei ADHS hingegen ist meist schon früh erkennbar, dass Kinder unruhig oder unaufmerksam sind. Allerdings wird ADHS bei manchen Betroffenen erst spät festgestellt, weil sie kompensierende Strategien entwickeln.
Wenn Sie nur in bestimmten Phasen (z. B. bei großer Reizdichte) überfordert sind und sich sonst gut organisieren können, spricht das eher für Hochsensibilität. Treten Probleme mit Impulsivität und Organisation jedoch in allen Lebensbereichen auf, sollte man an ADHS denken.
Therapie und Umgang
Hochsensible profitieren oft von psychoedukativen Ansätzen, die ihnen helfen, eigene Grenzen wahrzunehmen und Reizpausen einzulegen. Bei ADHS kann darüber hinaus eine medizinische Therapie (z. B. Stimulanzien wie Methylphenidat) angezeigt sein, um die exekutiven Funktionen zu verbessern (Ramsay & Rostain, 2015).
Daher ist es entscheidend, beide Konzepte auseinanderzuhalten: Wer nur hochsensibel ist, braucht vielleicht kein ADHS-spezifisches Coaching. Und wer ADHS hat, kann nicht allein durch Rückzugsorte und sensible Selbstfürsorge den großen Teil seiner Schwierigkeiten lösen.
Überschneidungen – Warum Hochsensibilität und ADHS verwechselt werden können
Wann eine ADHS-Diagnostik hilfreich sein kann – trotz Hochsensibilität
Verwirrung vermeiden
Viele Menschen nehmen an, sie seien „bloß hochsensibel“, weil sie sich leicht überfordert fühlen und sehr emotional reagieren. Doch wenn sie über Jahre hinweg feststellen, dass sie strukturell Probleme mit Organisation, Zeiteinteilung und Selbstdisziplin haben, kann das auf ADHS hindeuten. In solchen Fällen empfiehlt es sich, nicht nur auf Hochsensibilität zu schauen, sondern auch einen ADHS-Test in Betracht zu ziehen (Faraone, Biederman & Mick, 2006).
Eine gründliche Diagnostik klärt, ob neurobiologische Faktoren die Reizüberlastung verschärfen. Wer nämlich ausschließlich an Hochsensibilität arbeitet – zum Beispiel durch Meditation, Rückzug und Entspannungsübungen –, aber grundlegende ADHS-Mechanismen unbeachtet lässt, wird langfristig nur Teilerfolge erzielen.
Chancen einer korrekten Diagnose
Gezieltere Maßnahmen: Eine klare ADHS-Diagnose eröffnet die Option auf medikamentöse Begleitung, Coaching oder Verhaltenstherapie, was die alltägliche Funktionsfähigkeit stark verbessern kann.
Selbstakzeptanz: Viele Betroffene erleben eine große Erleichterung, wenn sie verstehen, dass ihr „Chaos“ oder ihre ständige Abgelenktheit eine neurobiologische Ursache hat. Dadurch sinken Selbstvorwürfe und Schuldgefühle.
Abgrenzung: Hochsensibilität mag weiterhin bestehen, aber man erkennt, was davon wirklich Empfindsamkeit und was davon exekutive Funktionsstörung ist. So kann man beides spezifisch angehen, anstatt alles in denselben Topf zu werfen.
Alltagsstrategien – Hochsensibilität und ADHS im Blick behalten
Selektiver Rückzug vs. Strukturierung
Für Hochsensible: Planen Sie regelmäßige Erholungsphasen, in denen Sie bewusst keine Reize zulassen. Ein ruhiger Abend ohne Social Media, mit gedimmtem Licht und entspanntem Lesen kann Wunder wirken.
Für ADHS-Betroffene: Klare Tagesabläufe, To-do-Listen und Timeboxing helfen, den Tag zu strukturieren. Pausen sind auch wichtig, dürfen aber nicht zu impulsivem „Driften“ verleiten.
Kommunikation und Abgrenzung
Offenes Aussprechen: Erklären Sie Familie oder Kolleg*innen, warum Sie manchmal eine ruhigere Umgebung brauchen oder warum Ihnen das Planen schwerfällt. Verständnis vom Umfeld kann den Druck erheblich reduzieren.
Grenzen setzen: Sowohl Hochsensible als auch ADHS-Betroffene sind oft geneigt, sich zu übernehmen – die einen aus Harmoniebedürfnis, die anderen, weil sie ihre Zeit schlecht einschätzen. Üben Sie das bewusste „Nein sagen“, um Überlastung zu vermeiden.
Hilfreiche Techniken
Meditation und Achtsamkeit: Hochsensible lernen, Eindrücke bewusst zu filtern, statt sich zu verlieren. ADHS-Betroffene trainieren, den Fokus länger auf einer Sache zu halten.
Digitale Tools: Apps für Zeitmanagement oder Erinnerung, digitale Kalender mit Alarmfunktion, Noise-Cancelling-Kopfhörer usw. können den Alltag strukturieren, sowohl gegen sensorische als auch gegen Aufmerksamkeitsüberlastung helfen.
Zwischen Reizempfindlichkeit und Unruhe liegt Erkenntnis
Hochsensibilität und ADHS überschneiden sich häufig in dem Gefühl, von Reizen oder Eindrücken schnell überfordert zu sein. Beide Gruppen sind anfällig für innere Unruhe, emotionale Intensität und das Bedürfnis nach Rückzug. Dennoch unterscheiden sie sich in ihrem Kern: Während Hochsensibilität auf einer erhöhten sensorischen und emotionalen Wahrnehmungsfähigkeit beruht, ist ADHS eine neurobiologische Störung der Selbststeuerung und Exekutivfunktionen.
Wer sich in beiden Beschreibungen wiederfindet, sollte in Betracht ziehen, ob nicht eine kombinierte Problemlage vorliegen könnte – etwa eine hochsensible Persönlichkeit, die zugleich von ADHS-Symptomen betroffen ist. Eine professionelle Diagnostik verschafft Sicherheit, ob es „nur“ um Feinfühligkeit oder um ADHS-typische Mechanismen geht, die das Leben erschweren
.
Der entscheidende Gewinn: Man kann die jeweils passenden Strategien entwickeln. Hochsensible profitieren von Reizreduktion und tiefem Verständnis für ihre Empfindungen, ADHS-Betroffene von medikamentösen und strukturellen Hilfen. Beides kann Hand in Hand gehen, wenn man sich bewusst macht, was im eigenen Erleben wovon herrührt – und dass es kein persönliches Versagen, sondern ein Zusammenspiel unterschiedlicher neuronaler und seelischer Faktoren ist.
Literatur
Aron, E. N. (1996). The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You. Broadway Books.
Brown, T. E. (2013). A New Understanding of ADHD in Children and Adults: Executive Function Impairments. Routledge.
Faraone, S. V., Biederman, J., & Mick, E. (2006). The age-dependent decline of attention deficit hyperactivity disorder: A meta-analysis of follow-up studies. Psychological Medicine, 36(2), 159–165.
Kessler, R. C., Adler, L. A., Barkley, R., Biederman, J., Conners, C. K., Demler, O., … & Zaslavsky, A. M. (2006). The prevalence and correlates of adult ADHD in the United States: Results from the National Comorbidity Survey Replication. American Journal of Psychiatry, 163(4), 716–723.
Ramsay, J. R., & Rostain, A. L. (2015). Cognitive Behavioral Therapy for Adult ADHD: An Integrative Psychosocial and Medical Approach (2nd ed.). Routledge.
(Hinweis: Wer über längere Zeit Schwierigkeiten mit Reizüberflutung, Konzentration oder Impulsivität hat, sollte professionelle Hilfe in Betracht ziehen. Hochsensibilität ist keine Diagnose, während ADHS eine anerkannte Störung ist, die sich wirksam behandeln lässt.)
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