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ADHS und Social Media: Vom TikTok-Hype zur seriösen Diagnose

  • Autorenbild: David Beck
    David Beck
  • 27. März
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 9. Apr.

Warum immer mehr Menschen auf TikTok und Instagram von ADHS sprechen, welche Chancen das eröffnet, warum aber auch Vorsicht geboten ist – und wie Sie eine fundierte Diagnose bekommen

Ein Smartphone mit diversen Social-Media Apps darauf.

Social Media als neue Informationsquelle für ADHS


Mehr als nur Unterhaltung


TikTok und Instagram haben sich in den vergangenen Jahren rasant entwickelt – längst sind sie nicht mehr reine „Spaß-Apps“ oder Fotoalben. Besonders bei TikTok hat sich ein breites Spektrum an Inhalten etabliert (Freed & Harris, 2021). Von Tanztrends über Kochrezepte bis hin zu psychologischen Themen ist alles vertreten. Das klingt zunächst harmlos, doch viele Nutzer*innen sehen dort zum ersten Mal Inhalte über ADHS, die ihre eigenen Probleme ansprechen: Unaufmerksamkeit, Prokrastination, innere Unruhe oder Impulsivität.





Wie TikTok ADHS greifbarer macht


Während es früher oft Monate oder Jahre dauerte, bis jemand überhaupt auf die Idee kam, ADHS als mögliche Erklärung für seine Probleme zu betrachten, erhalten Userinnen auf Social Media innerhalb weniger Sekunden eine Fülle an Informationen. Creatorinnen teilen persönliche Geschichten, erklären Symptome oder geben Tipps – und zwar in einem lockeren, emotionalen Stil, der Nähe vermittelt (Montemayor, 2022). Menschen, die sonst kaum Kontakt zu psychologischen Themen hätten, stoßen so zufällig auf ADHS-Beiträge. Das kann Hemmschwellen senken: „Wenn andere das haben und darüber reden, könnte ich ja ebenfalls betroffen sein.“ Dieses Gemeinschaftsgefühl nimmt Betroffenen oft das Gefühl, mit ihren Schwierigkeiten allein dazustehen.


Chancen: Von der Tabuauflösung bis zur ersten Selbstreflexion


Enttabuisierung psychischer Störungen


Lange galt ADHS nur als „Zappelphilipp-Diagnose für Kinder“. Inzwischen wächst das Bewusstsein, dass auch Erwachsene davon betroffen sind (Barkley, 2015). Social Media trägt dazu bei, dieses veraltete Bild zu verändern: Menschen teilen ihr Leben mit ADHS, zeigen Tricks für den Alltag und normalisieren den Diskurs (Brown, 2013). So verliert das Thema seinen Stigma-Charakter.


Schnelle Wiedererkennung


Viele User*innen berichten: „Ich habe da ein TikTok gesehen und mich komplett wiedergefunden.“ Dieser Wiedererkennungseffekt kann ein wichtiger erster Schritt sein, sich ernsthafter mit den eigenen Symptomen zu beschäftigen (Freed & Harris, 2021). Anstatt jahrelang zu glauben, man sei einfach „faul“ oder „unfähig“, kommt der Gedanke: „Vielleicht gibt es eine neurobiologische Ursache.“ So wird der Grundstein gelegt, gezielt nach Informationen zu suchen oder sogar einen Arzttermin zu vereinbaren.


Erste Tipps und Alltagsstrategien


Manche Creatorinnen, die selbst eine ADHS-Diagnose haben, stellen kurze Videos online, in denen sie Soforthilfen teilen: To-do-Listen, Apps zur Erinnerung oder Belohnungssysteme (Brown, 2013). Diese kleinen „Hacks“ können tatsächlich entlasten. So entsteht eine Art „Community-Wissen“ rund um ADHS, das den Alltag erleichtern kann – etwa indem Userinnen lernen, wie man sich vor Ablenkung schützt oder wie man bewusst Pausen und körperliche Aktivität einbaut.


Risiken: Warum virale Selbstdiagnosen problematisch sind


Schnellschuss ohne fachliche Basis


Ein 30-Sekunden-Video kann nicht die Komplexität einer psychischen Störung abdecken. Viele TikTok-Postings nennen nur ein paar Symptome, die bei zahlreichen anderen Problemen ebenfalls auftreten können (Holloway, Crisp & Freed, 2023). Selbsttest-Fragen wie „Bist du oft unkonzentriert?“ oder „Verlierst du ständig deine Schlüssel?“ treffen auf unzählige Menschen zu – ohne dass diese wirklich ADHS hätten.


Algorithmische Echokammern


TikToks Algorithmus merkt sich, wofür User*innen Interesse zeigen. Wer ein paar ADHS-Videos anschaut, erhält fortan weitere Clips zu diesem Thema, was den Eindruck verstärkt, „alle“ hätten ADHS oder „es passt genau zu mir“ (Freed & Harris, 2021). Dieser Effekt, bekannt als Confirmation Bias, kann dazu führen, dass echte Alternativen (z. B. Schlafmangel, Stress oder andere Störungsbilder) kaum noch in Betracht gezogen werden.


Mangelhafte Differenzierung


Ein zentrales Risiko besteht in der fehlenden Unterscheidung verschiedener Störungen. Unaufmerksamkeit und innere Unruhe können auch auf Depression, Angststörungen oder Schilddrüsenprobleme hindeuten (Barkley, 2015). Wer allein auf TikTok-Fakten vertraut, übersieht womöglich medizinische Ursachen oder andere psychische Erkrankungen, die behandelbar wären.


Therapieempfehlungen ohne Fachwissen


Viele Creator*innen geben Ratschläge, die von „Nimm dieses Vitamin“ über „Verwende diese App“ bis hin zu „Mach diese eine Übung“ reichen (Holloway et al., 2023). Das ist nicht immer verkehrt, kann aber fehlgeleitet sein, wenn es ohne fachlichen Hintergrund empfohlen wird. Wirklich wirksame ADHS-Behandlung umfasst oft eine Kombination aus Coaching, Verhaltenstherapie oder – in manchen Fällen – medikamentöser Unterstützung (Brown, 2013). Ein zehnsekündiges Video erklärt solche Zusammenhänge kaum angemessen.


Vor- und Nachteile von Social Media bei ADHS

Vorteile


  1. Schnelle Verfügbarkeit: Man erhält niederschwellig Einblicke in Lebensrealitäten anderer ADHS-Betroffener.

  2. Community-Gefühl: Gerade wer bisher wenig Verständnis im Umfeld erfuhr, kann online Mitgefühl und Bestätigung finden.

  3. Offener Umgang: Das Tabu um psychische Diagnosen wie ADHS wird gelockert. Menschen trauen sich eher, darüber zu reden.


Nachteile


  1. Selbstdiagnose-Gefahr: Ohne medizinische oder psychologische Abklärung kann man falsch auf die Idee kommen, ADHS zu haben – oder andere Probleme übersehen.

  2. Filterblase: Die Algorithmen bestärken Menschen in einer anfänglichen Vermutung, statt objektive Alternativen zu präsentieren.

  3. Ungenaue oder falsche Tipps: Kurze Social-Media-Clips vereinfachen eine komplexe Störung. Das kann in einer krassen Fehldeutung enden und wertvolle Zeit kosten, bis eine richtige Diagnose erfolgt.


Wie man Social Media sinnvoll nutzt – und dabei realistisch bleibt


Realistische Erwartungen entwickeln


Es ist nichts dagegen einzuwenden, sich via TikTok, Instagram oder YouTube erste Eindrücke zum Thema ADHS zu verschaffen (Montemayor, 2022). Allerdings sollten Nutzer*innen im Hinterkopf behalten, dass diese Plattformen Unterhaltungs-Algorithmen verwenden, die keine neutralen Informationen liefern. Ein Reflex nach dem Motto „Ich erkenne mich darin wieder, also habe ich ADHS“ kann täuschen, wenn man keine fachliche Meinung einholt.


Fachärztliche Diagnose einholen


Wer merkt, dass die Probleme seit Langem bestehen und den Alltag erheblich beeinträchtigen, sollte sich nicht auf digitale Kurzvideos verlassen (Barkley, 2015). Eine gründliche ADHS-Diagnostik umfasst:


  • Gespräche mit Psychiaterin oder Psychologin

  • Standardisierte Tests (z. B. CAARS)

  • Überprüfung anderer möglicher Ursachen (z. B. Depression, Angst, Schilddrüsenprobleme)


Nutzen statt Blind vertrauen


Social Media kann hervorragend sein, um sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen, Ideen für den Alltag zu sammeln oder sich motivieren zu lassen (Brown, 2013). Man sollte jedoch Abstand davon nehmen, sich ausschließlich auf Clips zu stützen und damit eine Diagnose oder Therapieempfehlung zu rechtfertigen. Besser: Die Inspiration aus dem Netz nehmen und mit einem*r Fachperson besprechen, was davon wirklich sinnvoll ist.


Fazit


TikTok, Instagram und Co. haben das Thema ADHS einer neuen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Immer mehr User*innen erkennen sich in Beiträgen wieder, fühlen sich verstanden und verlieren die Scham, über psychische Probleme zu reden. Das stützt einerseits die Enttabuisierung, kann andererseits aber zu unkontrollierter Selbstdiagnose führen, die wichtige Schritte wie eine ärztliche Abklärung überspringt.


Um nicht von einem kurzen Video in die Irre geführt zu werden, sollte man Social Media vor allem als Startpunkt sehen – nicht als Endpunkt. Wer durch TikTok auf ADHS aufmerksam wird, hat die Chance, rechtzeitig professionelle Hilfe zu suchen. Gleichzeitig bleibt ein gesundes Maß an Skepsis gefragt: Der Algorithmus ist kein Arzt. Letztendlich ist nur eine gründliche, fachlich begleitete Diagnostik in der Lage, zu klären, ob ADHS tatsächlich vorliegt oder andere Faktoren eine Rolle spielen. Wer das berücksichtigt, kann vom Social-Media-Trend profitieren, statt ihm blind zu folgen.





Literaturverzeichnis


  • Barkley, R. A. (2015). Attention-Deficit Hyperactivity Disorder: A Handbook for Diagnosis and Treatment (4th ed.). New York, NY: Guilford Press.

  • Brown, T. E. (2013). A New Understanding of ADHD in Children and Adults: Executive Function Impairments. New York, NY: Routledge.

  • Freed, R., & Harris, B. R. (2021). Mental health content creation and self-diagnosis on TikTok: The emerging role of short-form videos. Journal of Digital Psychology, 19(3), 112–120.

  • Holloway, L., Crisp, K., & Freed, R. (2023). Social media algorithms and the self-diagnosis of ADHD: A qualitative study. Journal of Social Media Studies, 27(1), 44–59.

  • Montemayor, E. (2022). The rise of ADHD TikTok: Content analysis of #ADHD videos and user perceptions. New Media & Society, 24(6), 1457–1472.

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