ADHS, Ableismus und die Self-Fulfilling Prophecy
- David Beck
- 18. März
- 4 Min. Lesezeit
Wie gesellschaftliche Vorurteile das Verhalten von Menschen mit ADHS beeinflussen können

Einleitung: Wenn Vorurteile Realität werden
Ableismus (engl. ableism) beschreibt eine Form der Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderungen oder neurodivergenten Diagnosen wie ADHS. Diese Haltung geht davon aus, dass neurotypische oder nicht-behinderte Menschen die Norm sind und dass Abweichungen davon als Defizite betrachtet werden. Studien zeigen, dass Menschen mit ADHS besonders häufig mit ableistischen Einstellungen konfrontiert sind, sei es in der Schule, im Berufsleben oder im sozialen Umfeld (Campbell, 2009).
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist mehr als nur eine Diagnose – sie ist oft mit tief verwurzelten gesellschaftlichen Vorurteilen verbunden. Menschen mit ADHS werden häufig als unzuverlässig, chaotisch oder faul wahrgenommen. Diese negativen Zuschreibungen verstärken das Gefühl, „nicht gut genug“ zu sein, und können sich langfristig auf die Lebensrealität der Betroffenen auswirken.
Ein psychologisches Phänomen, das diesen Effekt verstärkt, ist die Self-Fulfilling Prophecy (selbsterfüllende Prophezeiung): Wenn Betroffene kontinuierlich hören, dass sie nicht leistungsfähig oder „zu schwierig“ sind, verinnerlichen sie diese Erwartungen – und beginnen, sich entsprechend zu verhalten. Dies führt dazu, dass sich Vorurteile tatsächlich bewahrheiten, was den gesellschaftlichen Ableismus weiter verstärkt. In diesem Artikel untersuchen wir die wissenschaftliche Grundlage dieser Prozesse, ihre Auswirkungen auf Menschen mit ADHS und mögliche Strategien zur Durchbrechung dieses Kreislaufs.
Self-Fulfilling Prophecy – Wenn Erwartungen Realität werden
Der Begriff Self-Fulfilling Prophecy stammt ursprünglich von Robert K. Merton (1948) und beschreibt das Phänomen, dass eine Erwartung oder Prognose allein dadurch, dass sie existiert, ihr eigenes Eintreten bewirkt. Im Kontext von ADHS bedeutet dies:
Negative Zuschreibungen beeinflussen das Selbstbild
Wenn Betroffene von Lehrkräften, Eltern oder Vorgesetzten als „unzuverlässig“, „unkonzentriert“ oder „weniger leistungsfähig“ wahrgenommen werden, könnten sie diese Zuschreibungen internalisieren und sich unbewusst entsprechend verhalten (Jussim & Harber, 2005).
Ableismus verstärkt den Effekt
Die Diskriminierungserfahrungen, die mit Ableismus einhergehen, verschärfen diesen Mechanismus. Studien zeigen, dass negative Zuschreibungen bei Menschen mit ADHS mit schlechterem Selbstwertgefühl und geringerer Motivation verbunden sind (Mueller et al., 2012).
Vermeidung und Rückzug
Diese negativen Erwartungen können auch dazu führen, dass Betroffene sich aus Angst vor Ablehnung oder Misserfolg von herausfordernden Situationen zurückziehen, was wiederum zu schlechteren schulischen oder beruflichen Leistungen führt.
Ableismus als Verstärker der Self-Fulfilling Prophecy bei ADHS
Ableistische Strukturen in Bildung, Beruf und Gesellschaft verstärken die selbsterfüllende Prophezeiung in mehreren Bereichen:
Bildungssystem:
Lehrer:innen könnten unbewusst niedrigere Erwartungen an Schüler:innen mit ADHS haben, was zu weniger Förderung, geringeren Anforderungen und letztlich schlechteren Leistungen führt (Rosenthal & Jacobson, 1968).
Arbeitsmarkt:
Arbeitgeber könnten Menschen mit ADHS als „zu chaotisch“ oder „wenig belastbar“ einstufen, was zu Benachteiligung bei der Jobvergabe führt – selbst wenn die Betroffenen hochqualifiziert sind (Daley & Birchwood, 2010).
Soziale Interaktionen:
Negative Stereotype („die Person ist unzuverlässig“) beeinflussen, wie Menschen mit ADHS behandelt werden. Dies kann dazu führen, dass sie sich sozial zurückziehen und sich ihr Verhalten tatsächlich verändert, weil sie weniger positive Rückmeldungen aus ihrem Umfeld erhalten (Hinshaw, 2018).
Neurobiologische Faktoren – Warum Menschen mit ADHS besonders anfällig sind
Die Self-Fulfilling Prophecy ist nicht nur ein soziales Phänomen – sie hat auch eine neurobiologische Grundlage.
Dopamin und Motivation
ADHS ist mit einer veränderten Dopamin-Regulation verbunden, was sich auf Motivation und Belohnungsverarbeitung auswirkt (Barkley et al., 2008). Menschen mit ADHS sind besonders sensibel für externe Bewertungen und reagieren stärker auf negatives Feedback als neurotypische Personen.
Erlernte Hilflosigkeit
Wenn sie wiederholt negative Rückmeldungen erhalten, sinkt ihre Fähigkeit zur Selbstmotivation – ein Mechanismus, der in der Psychologie als „erlernte Hilflosigkeit“ bekannt ist (Mueller et al., 2012). Besonders in der Schule oder am Arbeitsplatz führt dies dazu, dass Betroffene weniger Initiative zeigen oder gar aufgeben, bevor sie eine Aufgabe beginnen.
Langfristige Auswirkungen auf Selbstwert und psychische Gesundheit
Diese Kombination aus gesellschaftlicher Ablehnung und biologischer Prädisposition macht Menschen mit ADHS besonders anfällig für Angststörungen, Depressionen und ein vermindertes Selbstwertgefühl (Hinshaw, 2018).
Strategien zur Durchbrechung der Self-Fulfilling Prophecy
Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist ein mehrdimensionaler Ansatz notwendig:
Psychoedukation:
Studien zeigen, dass Menschen mit ADHS, die über ihre eigene Diagnose und Funktionsweise gut informiert sind, weniger anfällig für negative Erwartungseffekte sind (Barkley et al., 2008).
Positive Rollenvorbilder:
Forschungsergebnisse legen nahe, dass Menschen mit ADHS, die Erfolgsgeschichten anderer Betroffener kennen, höhere Selbstwirksamkeit und Resilienz entwickeln (Sedgwick et al., 2019).
Strukturelle Veränderungen:
ADHS-gerechte Arbeits- und Lernumgebungen können dazu beitragen, dass Betroffene ihre Stärken ausspielen und die negativen Auswirkungen der Self-Fulfilling Prophecy abmildern.
Mentoring & Support-Netzwerke:
Der Kontakt zu erfolgreichen neurodivergenten Vorbildern kann helfen, negative Selbstbilder zu korrigieren und neue Perspektiven zu entwickeln.
Quellen:
Barkley, R. A., Murphy, K. R., & Fischer, M. (2008). ADHD in Adults: What the Science Says. Guilford Press.
Campbell, F. K. (2009). Contours of Ableism: The Production of Disability and Abledness. Palgrave Macmillan.
Daley, D., & Birchwood, J. (2010). ADHD and academic performance. Child: Care, Health and Development, 36(4), 455-464.
Hinshaw, S. P. (2018). The ADHD Explosion: Myths, Medication, and Today's Push for Performance. Oxford University Press.
Rosenthal, R., & Jacobson, L. (1968). Pygmalion in the classroom: Teacher expectation and pupils’ intellectual development.
Sedgwick, J. A., Merwood, A., & Asherson, P. (2019). ADHD Attention Deficit and Hyperactivity Disorders, 11(3), 241-253.
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