ADHS bei Erwachsenen: Symptome, Alltagshürden und Möglichkeiten zur Bewältigung
- David Beck
- 18. März
- 5 Min. Lesezeit
Wie die Aufmerksamkeitsstörung im Erwachsenenalter aussieht, woran man sie erkennt – und warum eine professionelle Diagnose den entscheidenden Unterschied macht

Einleitung – Warum ADHS auch jenseits der Kindheit relevant ist
Mehr als nur eine Kinderstörung
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) wird traditionell mit Kindern in Verbindung gebracht. Das Bild vom „Zappelphilipp“ – unruhig, unkonzentriert, impulsiv – prägt nach wie vor das Bewusstsein vieler Menschen. Doch die Idee, dass ADHS „nur bis zur Pubertät“ besteht, ist längst überholt. Eine bedeutende Anzahl der Betroffenen führt die Symptome bis ins Erwachsenenalter mit (Faraone, Biederman & Mick, 2006).
Wer ist betroffen?
Schätzungen zufolge können etwa 2–5 % aller Erwachsenen Symptome zeigen, die auf ADHS hindeuten (Kessler et al., 2006). Die Dunkelziffer ist vermutlich höher, da ältere Generationen in ihrer Kindheit kaum Diagnostik- oder Therapiekonzepte für ADHS kannten. Viele lernen daher erst spät – oft im Zuge eines Burnouts, einer Depression oder durch ihre eigenen Kinder, die eine ADHS-Diagnose erhalten – dass sie selbst betroffen sein könnten.
Mehr Informationen über das unterschiedliche Auftreten von ADHS bei Kind und Erwachsenem finden Sie in unserem Blog-Artikel „Zahlen und Fakten zu ADHS: Mythen vs. Realität“.
Woran erkennt man ADHS bei Erwachsenen?
Weniger Zappeln, mehr innere Unruhe
Bei Kindern steht oft Hyperaktivität im Vordergrund. Erwachsene dagegen erleben nicht immer äußerliches Zappeln, sondern vielmehr eine beständige innere Unruhe. Wer ADHS hat, fühlt sich oft getrieben, hat Schwierigkeiten, still zu sitzen oder länger konzentriert an einer Aufgabe zu arbeiten.
Exekutive Dysfunktionen
ADHS bei Erwachsenen äußert sich häufig in Defiziten der sogenannten exekutiven Funktionen (Brown, 2013):
Aufschieben (Prokrastination): Wichtiges wird bis zur letzten Minute vertagt.
Planlosigkeit: Routinetätigkeiten wie Rechnungen, Verträge oder Haushaltsaufgaben werden unkoordiniert angegangen.
Impulse: Spontane Kaufentscheidungen oder Gefühlsausbrüche, die man später bereut.
„Chaos vs. Kreativität“
Gleichzeitig haben viele ADHS-Betroffene besondere Stärken, etwa hohe Kreativität, Einfallsreichtum oder schnelle Reaktionsfähigkeit unter Druck. Die Diskrepanz zwischen Phasen extremen Hyperfokus und Desorganisation wirkt auf Außenstehende oft widersprüchlich, führt aber nicht selten zu Selbstzweifeln oder Selbstvorwürfen („Warum bekomme ich das nicht hin, wenn ich doch so viel Potenzial habe?“).
Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, wie ADHS im Alltag für Unsicherheit und Druck sorgen kann, werfen Sie gern einen Blick in unseren Blog-Artikel „High Functioning Anxiety und ADHS“.
Alltagshürden – Typische Probleme, die bei Erwachsenen mit ADHS auftreten
Beruf und Karriere
Dauerstress durch Deadlines: Menschen mit ADHS scheitern oft daran, Projekte rechtzeitig zu beginnen. Am Ende wird alles in Hektik erledigt, was zu Fehlern oder Erschöpfung führt.
Konzentrationsbrüche in Meetings: Lange Sitzungen oder strukturierte Prozesse fallen schwer. Wiederholte Ablenkung kann dem Kollegium als Desinteresse erscheinen.
Häufige Jobwechsel: Wer sich schnell langweilt oder mit der Bürokratie kämpft, verlässt den Arbeitsplatz in der Hoffnung auf „Besserung“ im nächsten.
Beziehungen und Familie
Ungeduld und Reizbarkeit: ADHS kann zu Stimmungsschwankungen führen, was Konflikte in Partnerschaften oder Freundschaften erhöht.
Vergesslichkeit: Geburtstage, Verabredungen oder wichtige To-dos werden übersehen. Das Umfeld empfindet es als Unzuverlässigkeit, was zu Streit oder Entfremdung führen kann.
Überlastung bei Alltagsaufgaben: Kinderbetreuung, Haushalt, Beruf – ADHS-Betroffene geraten mitunter in Dauerstress, weil ihnen Struktur und Organisation schwerfallen.
Negative Selbstwahrnehmung
Statt zu erkennen, dass ein Teil ihrer Schwierigkeiten neurobiologisch begründet ist, machen sich viele Erwachsene mit ADHS selbst Vorwürfe. Sie empfinden sich als „faul“ oder „unfähig“, obwohl sie eigentlich jede Menge Energie in die Kompensation stecken. Dies kann zu Depressionen oder Angststörungen führen, wenn keine Hilfe in Anspruch genommen wird (Kessler et al., 2006).
Wenn Sie sich zwischen Erschöpfung und Konzentrationsproblemen wiederfinden, können Sie in unserem Blog-Artikel „Burnout oder ADHS?“ nachlesen, wie man beide Phänomene auseinanderhalten kann.
Diagnose – Warum sie oft spät kommt und warum sie so wichtig ist
Späte Erkenntnis, großer Aha-Effekt
Viele Erwachsene erhalten ihre ADHS-Diagnose erst, wenn sie in eine Krise geraten – ob Burnout, Beziehungskrise oder Jobverlust. Oft stoßen sie auf das Thema, weil sie erkennen, dass ihre Schwierigkeiten nicht „normal“ sind und dass es einige Anzeichen aus der Kindheit gab, die damals abgetan wurden. Die Diagnose kann ein Schlüsselerlebnis sein, denn sie erklärt langjährige Selbstzweifel und eröffnet neue Therapieoptionen (Brown, 2013).
Professionelle Testverfahren
Bei Erwachsenen kommt häufig eine Kombination aus Selbstbeurteilungsbögen, Fremdanamnesen (z. B. durch Partnerin) und neuropsychologischen Tests zum Einsatz. Bekannte Instrumente sind beispielsweise die CAARS (Conners’ Adult ADHD Rating Scales) oder der HASE-Test (Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene).Wichtig ist, dass Ärztinnen oder Psycholog*innen nicht nur ADHS, sondern auch mögliche Komorbiditäten wie Depression, Angststörungen oder Persönlichkeitsproblematiken abklären. Denn oft überlappen sich verschiedene Symptome, was eine exakte Diagnose erschweren kann.
Mehr darüber, wie diese Diagnostik für Erwachsene konkret abläuft, erfahren Sie in unserem Blog-Artikel „ADHS-Test im Erwachsenenalter“.
Behandlung und Bewältigung – Was Erwachsene mit ADHS tun können
Therapiebausteine
Medikamente: Stimulanzien wie Methylphenidat (Ritalin, Medikinet) oder Amphetaminpräparate können die Aufmerksamkeit verbessern und Impulsivität senken (Faraone & Buitelaar, 2010). Sie sind jedoch kein „Allheilmittel“, sondern funktionieren am besten in Kombination mit therapeutischen Maßnahmen.
Verhaltenstherapie / ADHS-Coaching: Hier lernen Betroffene Strategien, um ihren Alltag zu strukturieren: Zeitmanagement, Prioritäten setzen, Techniken gegen Aufschieberitis.
Psychoedukation: Das eigene Störungsbild zu verstehen, entlastet ungemein. Wer weiß, dass ADHS kein Charakterfehler ist, kann konstruktiver damit umgehen und Schuldgefühle reduzieren.
Alltagsstrategien
Klare Routinen: Ein fester Tagesablauf kann helfen, wichtige Aufgaben nicht zu vergessen. Digitale Tools oder Alarmsysteme erinnern an Termine und Deadlines.
Reizreduktion: Wenn Sie leicht abgelenkt sind, kann ein ruhiges Arbeitsumfeld, das Schließen von überflüssigen Tabs am Computer und das Ausschalten von Handy-Benachrichtigungen Wunder wirken.
Kleine Schritte: Das Aufteilen großer Projekte in überschaubare Etappen steigert das Erfolgserlebnis. So entstehen weniger Stress und weniger Vermeidungsverhalten.
Lesen Sie gern mehr über Umgang mit Chaos und Struktur in unserem Blog-Artikel „High Functioning Anxiety und ADHS“, wo wir den Spagat zwischen äußerem Erfolg und innerem Druck beleuchten.
Häufige Mythen und Fakten zu ADHS bei Erwachsenen
„Man wächst doch aus ADHS heraus … oder?“
Tatsächlich legt die Forschung nahe, dass ein Teil der Kindersymptome abnehmen kann. Doch rund die Hälfte (oder mehr) behält Kernsymptome ins Erwachsenenalter bei (Faraone, Biederman & Mick, 2006). Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Zeitmanagementprobleme bleiben also bei vielen Menschen ein Lebensthema.
„ADHS ist nur Mode“
Oft hört man, ADHS sei künstlich aufgebauscht. Doch rückblickend gab es schon im letzten Jahrhundert Beschreibungen dieser Symptomatik, nur wurden sie anders benannt. Der steigende „Trend“ an Diagnosen lässt sich eher mit besserer Sensibilisierung und verfeinerter Diagnostik erklären (Brown, 2013).
„Erwachsene mit ADHS sind weniger intelligent“
Dieser Mythos ist schlicht falsch. Das kognitive Potenzial kann genauso hoch oder höher sein als beim Durchschnitt. ADHS bedeutet lediglich Schwierigkeiten, die eigenen Fähigkeiten strukturiert umzusetzen. Viele Betroffene sind sogar sehr kreativ oder hochbegabt, was aber durch Organisationsthemen verdeckt wird.
In unserem Blog-Artikel „Zahlen und Fakten zu ADHS: Mythen vs. Realität“ finden Sie mehr Beispiele zu gängigen Vorurteilen.
Fazit – ADHS im Erwachsenenalter erkennen und konstruktiv damit leben
ADHS stellt im Erwachsenenalter weit mehr dar als „ein bisschen Zappeligkeit“: Es beeinflusst die Gesamtheit dessen, wie eine Person ihren Tag plant, Aufgaben wahrnimmt und Gefühle verarbeitet. Die Dunkelziffer derjenigen, die jahrelang ohne Diagnose durchs Leben gehen, ist hoch. Doch wer sich selbst in der Symptomatik wiedererkennt, kann mit einer professionellen Untersuchung oft den Knoten lösen.
Die gute Nachricht: Mit dem richtigen Therapiekonzept – von Coaching über Verhaltenstherapie bis zu medikamentöser Unterstützung – ist es durchaus möglich, strukturierter und entspannter zu leben. Viele erwachsene Betroffene entdecken dann Seiten an sich, die zuvor unter dem ständigen Druck verborgen blieben: Fantasie, Humor, Schnelldenken und unkonventionelle Lösungsansätze.
Wer ADHS allerdings als reine „Charakterschwäche“ abtut, verpasst die Chance auf echte Verbesserungen. Im Gegenteil: Der Blick in die Statistik zeigt, dass ADHS für viele Komorbiditäten (Depression, Ängste, Suchtrisiken) ein Risikofaktor ist. Umso wichtiger, das eigene Potenzial nicht durch Selbstzweifel zu blockieren, sondern dank einer fundierten Diagnose die richtige Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
(Bei weitergehendem Interesse: Unser Blog-Artikel „ADHS-Test im Erwachsenenalter“ fasst zusammen, wie eine seriöse Diagnostik abläuft und welche Schritte anschließend sinnvoll sind.)
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